Max Goldt: Bitte keine Blumen. Ich habe keine Vasen. (Tagebuch)

(September 1998)

14. 9. 1998
Die »Fantastischen Vier« sind demnächst alle vier vierzig. Prince, Michael Jackson, Madonna und, last but not least, ich. Ich bereite eine kleine Party vor. »Ich bitte zu einem vornehmen Beisammensitzen« habe ich in die Einladung geschrieben, damit die Leute nicht denken, es werde zu einem Hüpfen gebeten. Gehüpft werden wird zu fortgeschrittener Stunde bestimmt trotzdem, und ich werde mithüpfen. Je oller, desto doller. Meine erste Geburtstagsfeier seit 21 Jahren. Ich konnte nie begreifen, warum ich meine Geburt feiern soll. Die Mutter müsste sich der Geburt entsinnen, und ich könnte einsehen, wenn sie mit ihrem Kind und vielleicht der Hebamme und dem Gynäkologen anstößt. Am absurdesten sind Jugendliche, die sich darauf freuen, ihren Geburtstag endlich mal ohne ihre Eltern zu feiern, also ohne die einzigen, die etwas mit dem Geburtstag zu tun haben. Was haben meine Freunde mit meiner Geburt zu tun? Ich fragte neulich in einer Buchhandlung nach einer volkskundlich seriösen Untersuchung über das Geburtstagsfeiern, aber es gab natürlich nichts. In der Staatsbibliothek lagert vielleicht eine staubige Doktorarbeit zu dem Thema, aber die zu finden, wäre mir zu mühselig. Das Geburtstagsfeiern ist, soweit ich weiß ein sehr junger, urbaner und bürgerlicher Brauch. Noch vor hundert Jahren feierte man auf dem Lande nur den Namenstag und allenfalls hohe, runde Geburtstage. Man dankte Gott, dass er einen so ein hohes Alter hat erreichen lassen. Der Wunsch eines Vierzigjährigen, sein erreichtes Alter zu feiern, wäre als vermessen empfunden worden, obwohl man in diesem Alter statistisch gesehen dem Tode näher ist als der Geburt. Es wäre daher angebracht, nicht seinen Geburtstag zu feiern, sondern seinen Noch-nicht-tot-Tag. Genau den will ich jetzt nach langer Abstinenz vom kalenderbedingten Persönlichkeitskult einmal feiern, und zwar, um anderen eine Freude zu machen. Was werden sich in all den Jahren für Geschenke angestaut haben. Eingedenk der Summen, die die Gäste in den letzten Jahren gespart haben, weil sie mir nichts schenken mussten, wäre es eigentlich angemessen, sie schlössen sich kurz und schenkten mir gemeinsam eine Eigentumswohnung. Stattdessen ist eine Blumenstraußflut zu erwarten, weil ich vergessen habe, in die Einladung zu schreiben »Bitte keine Blumen. Ich habe keine Vasen.« Ich fürchte, ich muss losziehen und Blumenvasen kaufen, und nehme an, dass ich mich dabei ertappen werde, dies unmännlich zu finden. Sicher - dem starren Geschlechterkorsett bin ich längst entschlüpft, bin, wie es sich gehört seit Freud, polymorph-pervers. Blumenvasen und Tischdecken kaufe ich trotzdem nicht gern und habe deswegen auch keine.

15. 9. 1998
Telefonat mit meiner Bardame über die von mir noch zu erwerbenden Gesöffe. Ich lasse eine Barkeeperin aus Hamburg anreisen, weil ich in Berlin keine kenne. Manche werden es für snobistisch halten, dass ich eine Cocktailmixerin anstelle. Aber ich muss mich ja um die Gäste kümmern. Ich kann es nicht leiden, wenn Leute erst zu einer Party einladen und die Gäste dann unbetreut in einer Ecke stehen und versauern lassen, sie einander nicht mal vorstellen. Dunja, meine Cocktaildame, meint, ich solle 50 Limonen kaufen. Warum nicht gleich 5000? Der Gemüsetürke an der Ecke kriegt ja einen Anfall, wenn ich in seinen Laden trete und sage »50 Limonen«. »Meine Limonen dienen der Grundversorgung der gesamten Bevölkerung und nicht nur ihren überspannten Privatallüren«, wird er zu Recht entgegnen

16. 9. 1998
Bei der Neustapelung meiner Papierstapel fällt mir ein Ikea-Katalog in die Hände. Wow, ein Ikea-Katalog. Soll ich die Ikea-Family-Card beantragen? Dann wäre ich in so einer Art Sekte, Scientology für Risikoscheue. Einmal im Jahr, so ist zu lesen, muss man dann mit anderen Ikea-Hardcore-Kunden gemeinsam Hummer essen, wobei man gewiss freundlich »beeinflusst« wird. Jedes Jahr zum Geburtstag gibt's außerdem eine »Überraschung«. Im ersten Jahr vielleicht ein Tischbein. Im zweiten, dritten und vierten Jahr gibt's auch ein Tischbein, und dann beginnt man zu ahnen, dass man im fünften Jahr die Tischplatte kriegt.
   Aber Pustekuchen. Im fünften Jahr gibt's wieder nur ein Tischbein. Das geht dann fünfzig Jahre so, und zum Schluss darf man sich in das Goldene Buch der Ikea-Family eintragen. Mein Eintrag würde lauten: »Das fünfte Tischbein war das überraschendste.«
   Abends sah ich den Film »Sue«. Eine lebensuntüchtige Frau mit merkwürdigen Brüsten vereinsamt in New York. Hinterher legen wir eine Tabelle an mit einem Vergleich Sue - Godzilla. Sue: Hat 1200 Eier Mietschulden. Godzilla: Legt 200 Eier in den Madison Square Garden. Sue: Brüste wirken unecht. Godzilla: Ganzer Körper wirkt unecht, usw.
   Vor Sue kam ein Werbespot, den ich wirklich hasse, was selten passiert. Ein Spot für ein Kaffeegetränk aus der Dose. Der Slogan lautet: »Kipp die Tradition.« Den Konsumdummchen, an die er sich richtet, wird hier doch tatsächlich weisgemacht, es sei ein innovativer, ja revolutionärer, wohl gar emanzipatorischer Akt, Kaffee aus der Dose zu trinken. Ich verachte die Agentur, die den Spot hergestellt hat, ich verachte die Darsteller, die da mitmachen, ich verachte jeden, der diese Werbung sehen kann, ohne das ganze Kino bis zur Decke hin vollzukotzen. Das war jetzt ein bisschen übertrieben

17. 9. 1998
Beim Fernsehen in kleiner Runde zwischen den Kanälen hin und her schalten und »Parteien zur Wahl« suchen. Irgendwo läuft doch immer ein Wahlspot, denkt man, was aber leider nicht stimmt. Alle wollen immer nur die Spots der Naturgesetzpartei oder der Partei Bibeltreuer Christen sehen oder wenigstens irgendwelchen schlecht gemachten Nazitrottel-Klumpatsch. Kommt was von den Grünen oder der CDU, sagen alle nur »gähn«. In den Achtzigern war der große Hit immer Helga Zepp-Larouche mit ihrer Europäischen Arbeiter-Partei. Warum bringt nicht mal irgendein Retro-Kult-Witz-T-Shirt-Typ ein Video mit deren geistesgestörtesten Wahlspots heraus?
   Unter den Leuten, die ich kenne, ist es am mainstreamsten, Grüne oder PDS zu wählen. Das sind halt die Parteien, die man als aufrechter Okayling so ankreuzen darf. Komischerweise gilt aber auch die CDU als immerhin diskutabel. Kann man durchaus wählen. Etwas gewagt, ein leichter Anflug von Hautgout, aber wem's gefällt? Absolut unmöglich: SPD. Ekelverein, top non grata. Middle name des Überekels: Gerhard »Auswanderungsgrund« Schröder. Wenn mein Bekanntenkreis demographisch repräsentativ wäre, bekäme diese Partei exakt 0 Prozent, so scheint mir zumindest. Sympathien werden im Gespräch verheimlicht. Von den Medienrepräsentanten her ist mir die PDS am sympathischsten, aber ich misstraue der Coolness und Liebness der öffentlichen Auftritte und gehöre sowieso nicht zur Zielgruppe. Hie der soverän intelektuelle Herr Bisky und der eloquente Herr Gysi, da die verbiesterte, starrsinnige Basis - diese Kluft macht mich misstrauisch. Über die FDP spricht niemand, obwohl man als freischaffender Künstler ja deren Klientel wär. Man sollte sich mehr informieren, aber wie? Es gibt ja keine seriösen Quellen

18. 9. 1998
In vier Stunden kommen all diese schrecklichen Gäste und ruinieren mein Parkett und meinen Teppich. Schrecklich, schrecklich. Hoffentlich schenkt mir niemand eine 800seitige Biographie von Horst Seehofer. Ich könnte vorübergehend meinen unter Auserwählten durchaus bekannten Charme verlieren. Oder 900 Seiten Volker Rühe. 1000 Seiten Peter Hintze. 5000 Limonen. Man könnte ewig so weiterspinnen

19. 9. 1998
Die Cocktails kamen gut an, besonders die Margeritas. Manche Gäste reagierten verblüfft, als sie erfuhren, dass dieser Drink Cointreau enthält. Cointreau! In der Küche steht noch eine unglaublich klebrige, fast volle Cointreau-Flasche. Was mach ich bloß mit dem Zeug? Die 50 Limonen gingen weg wie warme Semmeln, die 80 Zitronen waren sogar unzureichend. Auch Mineralwasser hatte ich zuwenig eingekauft, dafür viel zuviel Fruchtsäfte. Ein Renner war lediglich der amerikanische Cranberry-Saft. Auf dem Etikett steht, die Cranberry sei eine Preiselbeere, aber nicht irgendeine, sondern eine sich im Dienste der Wellness befindliche. Auf Wellness sind die Leute wild drauf heutzutage. Wellness ist wie früher Fitness, nur dass jetzt auch die Seele mitmachen muss. Bei Wellness muss man nicht um den Block rennen, sondern sich in die Wanne legen und CDs mit angeblich in Asien aufgenommenem Wassergeglucker anhören, die von medizinischen Betrügern über Apotheken vertrieben werden. Danach fühlt man sich, als ob man ein Glas Preisselbeersaft getrunken hätte.
   Dass ich keine Cola, Fanta etcetera im Hause hatte, wurde von niemandem beanstandet. Ich habe aber auch wirklich überlegt eingeladen. Die Liste zigmal überprüft. Jeder sprach mit jedem, alle Menschen küssten sich, O. griff allen Männern zwischen die Beine, niemand saß länger als vertretbar allein in einer Ecke. Die Knabbereien wurden gut angenommen, insbesondere die sauteuren ROKA Cheese Crispies aus der Blechdose. Auch die »echt geschlungenen« Schweizer Kleinbrezeln wurden, anfangs belächelt, mit Wonne verschlungen. Kritisiert wurde das Fehlen von Macademia-Nüssen. Die hätten in meinem breit-gefächerten Sortiment aus internationalen Edelnüssen gefehlt. Ich finde Macademianüsse allerdings ordinär, fettig, undelikat und nouveau riche. Einige Programmpunkte wie eine kommentierte und mit psychoanalytischen Rätseln verknüpfte Verkostung von Trüffeln aus der Confiserie Madeleine in den Geschmacksrichtungen Knoblauch, Enzian, Kümmel, Senf (altdeutsch), Koriander, Lavendel, Muskat und Spargel musste ich ausfallen lassen, weil einige Gäste bereits um Mitternacht so außer Rand und Band waren, dass sich eine kleine Schar stillerer Probanden leicht befremdet verabschiedete. Um zwei war es in meiner Wohnung so laut wie in einer metallverarbeitenden Fabrik. Am besten fand ich die Stelle, wo ich in die Hände klatschte und schrie: »Wir gehen jetzt alle aufs Dach.« Alle folgten mir wie Kühe und gingen aufs Dach. Nach zehn Minuten schrie ich: »Wir gehen jetzt wieder runter.« Alle gingen mir nach. Ich hatte nur wirkliche Individualisten eingeladen, unabhängige Menschen, die souverän über den Gewalten stehen. So Sub-IQ-Typen oder Teenager, die sich nicht autoritären Experimenten genussvoll hingeben können, waren einfach nicht da. Gegen drei bot O. irgendwelche Disco-Pillen an, die zu meiner Erleichterung von jedermann gähnend verschmäht wurden. Sonst würden die Leute wahrscheinlich jetzt noch hier rumhängen und meine CDs mit Cointreau verschmieren. Ein Gast wurde gerügt, weil er eine Ernst-Jünger-Biographie als Getränke-Untersetzer genutzt hat. Ein anderer Gast kollabierte, nachdem seine Freundin ihm eine Fanfarentrompete in die Kniekehlen gehauen hat, um seinen Betrunkenheitsgrad zu beurteilen. Dem rücklings Darniederliegenden fiel Kleingeld aus der Hosentasche, das ihm von einem weiteren Gast mit nicht wenig Brutalität in den Mund gestopft wurde. Ich habe vier Vasen gekauft und keinen einzigen Blumenstrauß bekommen.
   Um sechs Uhr früh sitz ich ungeheuer gutgelaunt auf meinem Sofa, das Zimmer ist so bunt und glitzernd feierlich. Ich bin tatsächlich noch nicht tot. Ich mag es, was das Licht der Lampen mit den klebrigen Gläsern auf dem Tisch macht. Es lässt sie so schön klebrig erscheinen.Völlig unpassenderweise fällt mir ein CD-Titel von Westbam ein: »We'll Never Stop Living This Way«

20. 9. 1998
Drogengebrauch ist ausschließlich akzeptabel bei intelligenten Erwachsenen mit solidem Selbstbewusstsein und soliden Finanzen. Drogen sollten geplant eingenommen werden, nie spontan. Immer allein, nie in Gesellschaft. Wenn man eine Droge nimmt, die man nicht kennt, sollte man vorher einen Freund bitten, zu einem vereinbarten Zeitpunkt anzurufen und zu fragen, ob es einem gut geht. Drogen sollten genutzt werden zu Abstiegen ins Seelenbergwerk und zu Bädern im Ideenfluss. Wer allerdings im nüchternen Zustand nie Ideen hat, der wird im Rausch auch keine haben, bzw.: Er wird sie nicht erkennen und einfangen können. Zur bloßen Unterhaltung Drogen zu nehmen ist Missbrauch, so wie Unterhaltungsmusik im Allgemeinen auch Missbrauch von Tönen und Strukturen ist. Die einzige Droge, die ich für Geselligkeiten akzeptiere, ist Alkohol. Die Ideen, die er erzeugt, sind zwar meist unergiebig, aber es gibt ja noch den Kater: Ein Kater ist ein unzuverlässiger, aber gelegentlich guter Ideenlieferant.
    Wenn man nicht unter Druck steht und die Zeit fließen lassen kann, ist der Kater oft interessanter als der Rausch.

(Aus Max Goldt, der Krapfen auf dem Sims, Alexander Fest Verlag, 2001)


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