Was Sie gerade gelesen haben, ist der schönste Text deutscher Sprache. Er müßte es jedenfalls sein, enthält er doch die schönsten deutschen Wörter: Ausgewählt von einer Jury die einen, die anderen mehrheitlich genannt von Tausenden Einsendern aus 111 Ländern. Die meistgenannten Wörter waren (Platz 1 bis 10) Liebe, Gemütlichkeit, Sehnsucht, Heimat, Kindergarten, Freiheit, gemütlich, Frieden, Sonnenschein und Schmetterling; das Ausland steuerte zudem noch Vergißmeinicht, Mutter und Fingerspitzengefühl bei, die Kinder plädierten für Libelle. Die Jury wählte aus: Habseligkeiten (Platz 1), Geborgenheit, lieben, Augenblick und Rharbarbermarmelade.
Harmlose Deutsche
Man liest diese Wörter und läßt sich von ihnen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern. Gut, Begriffe wie Heimat oder Gemütlichkeit mögen etwas bieder anmuten und typische Klischees über die Deutschen transportieren, andererseits wurden sie auch und gerade von Menschen aus dem Ausland eingereicht - können also gar so unangenehm nicht sein. Und was für eine Erkenntnis wäre schöner als jene, daß die einst so militaristischen, kriegerischen Deutschen am liebsten gemütlich im Sonnenschein liegen und Schmetterlingen zuschauen, mithin ausgesprochen harmlos sind?
Das Frohlocken, das sich angesichts solch schöner Wörter einstellt, ist uns freilich nicht häufig vergönnt. Die meisten deutschen Zeitungen nämlich scheinen die schönen Wörter nicht zu schätzen, ja geradewegs zu boykottieren. Die Berichterstattung über besagte Wahl ausgenommen, stoßen wir nirgendwo in den heutigen Blättern auf Libellen oder gar Rhabarbermarmelade. Statt dessen beleidigen die Gazetten die Augen ihrer Leser mit einer Aneinanderreihung ausgesprochen unschöner Wörter. Blättern wir etwa den "Spiegel" von heute durch, so finden wir in seinen fettgedruckten Überschriften zahllose häßliche Begriffe: Kassensturz, Mauschelei, Marschbefehl, Taliban, Neonazis, Klassenkampf, Waffen, Löwengrube, leiden, Unbehagen, peinlich, Angstpartie, Brechattacken, Jahrhundert-Killer, Gift-Harpunen, Führermumie, Bush.
Wut und Angst
Nun könnte man sagen: Gut, der "Spiegel". Dessen Aufgabe ist es ja seit Jahrzehnten, Mißstände anzuprangern, und das kann man kaum mit Wörtern wie "Geborgenheit" oder "Liebe". Schauen wir also in den "Focus", das auch in Persona seines Chefredakteurs Helmut Markwort gemütlichere der beiden Nachrichtenmagazine. Aber auch die "Focus"-Titelzeilen bieten ein betrübliches Bild: Krach, Nachteil, Sucht, Klassenkampf, Gesetzes-Pleite, Schwindel,, Nebelzone, Verlust, Seilschaften, Front, Neidhammel, Menschenverachtung, Wut und Angst lauten die Schlagwörter.
Daß ein Blick in die "Bild"-Zeitung kaum erfreulicher ist, kann man sich denken. Und tatsächlich: Hier werden wir konfrontiert mit unerquicklichen Wörtern wie Zicken-Krieg, Schulknast, verprügeln, Monster, Sickergrube, Drogenpartys, Hintern, Giftnatter, Wirtschafts-Boß - eines fetter gedruckt als das andere.
Und nun verstehen wir auch, warum immer mehr Menschen die Tageszeitung weglegen und die, die immer noch eine lesen, zunehmend depressiver werden. Wir Deutschen verfügen über wunderschöne Wörter, aber wir machen von ihnen keinen Gebrauch. Einzig die "taz" zieht die richtigen Konsequenzen und läßt in diverse Artikel ihrer heutigen Ausgabe unauffällig das Wort "Habseligkeiten" einfließen ("Schavan: Stoiber soll seine Habseligkeiten packen"). Das aber kann nur ein Anfang sein. Mehr Schönheit wagen, muß die Devise für alle Medien lauten: Verbannt die Giftnattern und laßt lieber ein paar Schmetterlinge fliegen.